"Die Netzentwicklungspläne werden maßgeblich durch europäische Annahmen bestimmt, die seit Jahren unreflektiert von öffentlicher Konsultation die Umsetzung des dritten EU-Binnenmarktpakets verfolgen. So disqualifiziert sich der Szenariorahmen als Ausgangspunkt für die deutsche Netzplanung. Er ist nur noch Ausgangspunkt für eine Feinjustierung bzw. Ergänzung der europäischen Netzplanung für das deutsche Übertragungsnetz."

Netzentwicklungsplan Strom 
Szenariorahmen 2019-2030
1. Entwurf
Konsultation

 

Stellungnahme

 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

im Rahmen der Konsultation des 1. Entwurfs des Szenariorahmens 2019-2030 des Netzentwicklungsplans Strom (NEP) nehme ich hiermit wie folgt Stellung zum vorliegenden Entwurf:

 

1. Szenariorahmen verfehlt COP21-Ziele

 

Gemäß UN-Klimakonferenz von 2015 in Paris und dem dort beschlossenen Übereinkommen der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen ist die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2°C, möglichst auf 1,5°C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter vorzusehen.

Um das 1,5°-Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, dass Treibhausgasemissionen zwischen 2045 und 2060 weltweit komplett eingestellt werden und anschließend bereits emittierte Treibhausgase aus der Atmosphäre wieder entfernt werden. Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt mit dem Klimaschutzplan 2050 einen konservativen Pfad, mit dem entlang der formulierten Zwischenziele im besten Fall eine Reduktion der Treibhausgase um 85% bis 2050 zu erwarten ist und damit lediglich die Einhaltung des 2°-Ziels verfolgt wird. Das verfehlt explizit die Zielvorstellungen von „deutlich unter 2°C“ des völkerrechtlich verbindlichen Abkommens.

 

Problem: Der Szenariorahmen verfolgt den Klimaschutzplan 2050 mit den Zwischenzielen 40% für 2020, 55% für 2030 und 70% für 2040 und repräsentiert damit ebenso das Scheitern des Pariser Klimaabkommens. In Würdigung ihres völkerrechtlich verbindlichen Charakters müssen die COP21-Ziele als gesetzliche Grundlage als realistisch angenommen werden, selbst dann, wenn entsprechende ambitionierte nationale Zielstellungen noch fehlen. Sie müssen daher wenigstens in einem Szenario explizit berücksichtigt werden.

 

Vorschlag: Ich schlage daher vor, einen Treibhausminderungspfad (95% bis 2050 mit entsprechend angepassten Zwischenzielen), der mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erreichen der COP21-Ziele führt, verbindlich als Grundlage des Szenarios C zu unterstellen. Dieses Szenario sollte darüber hinaus weiter aufgespreizt werden, um den Charakter eines „ambitionierten“ Szenarios weiter zu befördern. Ein Szenario eines ambitionierten transformatorischen Prozesses soll nicht nur die Einhaltung des 1,5°-Ziels darstellen, sondern sogar darüber hinausgehen. Es ist nicht vermittelbar, weshalb bislang das Szenario mit den ambitioniertesten Transformationsprozessen nicht einmal die Einhaltung der COP21-Ziele repräsentiert.

 

2. Darstellung und Mitkonsultation der Einflussgrößen des europäischen Netzentwicklungsplans

 

Die Ergebnisse der Netzentwicklungspläne werden maßgeblich durch europäische Annahmen bestimmt, die seit Jahren unreflektiert von öffentlicher Konsultation die Umsetzung des dritten EU-Binnenmarktpakets verfolgen. Der Szenariorahmen debattiert als Grundlage des Netzentwicklungsplans lediglich die Entwicklungen der deutschen Energieinfrastrukturen und Klimaambitionen. 

Nicht nur die von der EU-Kommission bestätigten Projekte gemeinsamen europäischen Interesses (PCI), sondern sämtliche Ergebnisse und Projekte der am wahrscheinlichsten angenommen Referenzszenarien der Ten Years Network Development Plans (TYNDP) der europäischen Vereinigung der Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) werden 1:1 in die Netzentwicklungspläne übertragen.

 

Problem: Durch diesen Umstand disqualifiziert sich der Szenariorahmen als Ausgangspunkt für wesentliche Ergebnisse der deutschen Netzplanung. Er stellt nicht den Ausgangspunkt der deutschen Netzplanung dar, sondern nur noch den Ausgangspunkt für eine Feinjustierung bzw. Ergänzung des TYNDP für das deutsche Übertragungsnetz.

Berücksichtigt man den europäischen Kontext der deutschen Netzausbauplanung, wird sofort deutlich, dass die hauptsächlich unter Kritik stehenden Ausbauvorhaben hierauf zurückzuführen sind. Das Kapitel 9 des Szenariorahmens wird diesem Umstand nicht einmal annähernd gerecht.

a) Es wird im Szenariorahmen weder dargestellt, warum sich - wie im Kapitel 1.1. nachzulesen ist - „die Nutzung dieser Ausgleichseffekte innerhalb Europas […] im In- und Ausland zu niedrigeren Strompreisen [führt] als es in einer rein nationalen Betrachtung der Fall wäre“, noch, 

b) welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen sich entlang von Umweltfolgekosten, steigenden Netzentgelten, Transportverlusten und Klimafolgekosten durch die Marktöffnung für ausländische fossile und atomare Stromerzeuger ergeben.

c) Die Einbeziehung eines Bottom-Up-Szenarios des TYNDP als Ausgangspunkt für den europäischen Marktrahmen in diesen Szenariorahmen bezieht bereits Ergebnisse früherer deutscher Netzentwicklungspläne ein. Hier entsteht ein logischer Zirkelschluss, der offensichtlich einen systematischen Fehler darstellt, da unter solchen Annahmen der Netzentwicklungsplan über den TYNDP zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Darüber hinaus wird durch die Unterstellung des europäischen Marktrahmens jeder deutsche Netzentwicklungsplan automatisch zu einem Top-Down-Ergebnis der TYNDPs.

d) Die Konsultation der Scenario Reports und TYNDPs geschehen zu anderen Zeiten und auf anderer Ebene.

 

Vorschlag:

a) Die Einbettung des Szenariorahmens in den europäischen Kontext ist ausführlicher darzustellen, als es bisher der Fall war. Die grundlegenden Annahmen und Ergebnisse der jeweils als Referenz benutzten Ergebnisse aus dem TYNDP sind transparent darzustellen und dadurch entstehende Lastflüsse bereits im Szenariorahmen aufzuführen. Eine bloße Benennung des Szenarios ist hier nicht hinreichend. Die Auswirkungen des angenommenen europäischen Marktrahmens auf die Eingangsparameter der einzelnen Regionen ist durch den kompletten Szenariorahmen mitdarzustellen, insbesondere bei der Darstellung der regionalen Erzeugungskapazitäten, in und aus deren Gebiet Lastflüsse über Grenzkuppelstellen erfolgen. Die Systematik der europäischen Netzentwicklungsplanung muss im entsprechenden Kapitel mit erläutert werden, auch, wann die entsprechenden Scenario Reports und TYNDP jeweils konsultiert und genehmigt wurden.

Darüber hinaus sollen die im TYNDP ermittelten Leitungsprojekte, die 1:1 in den Netzentwicklungsplan übernommen werden, aus Gründen der Transparenz bereits im Szenariorahmen benannt werden.

b) Über eine auf den Dialogveranstaltungen zu diesem Szenariorahmen angeregte frühe Miteinbeziehung des Umweltberichts zum NEP sollten Folgekosten für Umwelt und Klima dargestellt werden, die in einer volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung die Vorteile der durch den TYNDP ermittelten und hier einfließenden Leitungsprojekte bzw. Marktrahmen nachweisen.

c) Aus Gründen der Transparenz, und um systematische Fehler bei der Netzplanung auszuschließen, soll auf Grundlage des Szenario B 2030 ein Referenzszenario vorgesehen werden, das den Status quo des gegenwärtigen europäischen Marktrahmens auch für 2030 unterstellt. Die Ergebnisse dieses Szenarios können dann als Ausgangspunkt für die regionale Netzplanung auf europäischer Ebene herangezogen werden, damit ein tatsächliches Bottom-Up-Szenario in diesen Prozess überhaupt erst eingespeist werden kann. Durch diese Maßnahme ließen sich außerdem, falls es diese gibt, Hinweise finden, die zu einer wesentlich effizienteren Netzstruktur führen könnten, selbst wenn auf die Ergebnisse dieses europäischen Status-Quo-Szenarios nachträglich der europäische Marktrahmen aus dem TYNDP aufgerechnet würde. Bei der derzeit angewandten Methodik ist das unmöglich, da der TYNDP-Marktrahmen Top-Down auf den des NEP aufgesetzt wird und so zwangsläufig im Wesentlichen immer wieder dieselben Ergebnisse entstehen müssen – insbesondere, wenn diese Ergebnisse als Bottom-Up-Ansatz in den nächsten TYNDP zurückgeschrieben werden.

d) Die Auswirkungen der TYNDP der ENTSO-E sind für den späteren NEP so entscheidend, dass deren Ansätze, Szenarien und Annahmen eigentlich im Rahmen dieser Konsultation mitdiskutiert werden müssten. Ich rege daher an, die wesentlichen Eckdaten und Annahmen der jeweiligen Scenario Reports und TYNDP im Szenariorahmen mit darzustellen und auch mit zu konsultieren. Da sowohl die Übertragungsnetzbetreiber als Bestandteil der ENTSO-E als auch die Bundesnetzagentur als Bestandteil der europäischen Vereinigung der Regulierungsbehörden ACER bei der Erstellung bzw. Genehmigung der TYNDP unmittelbar beteiligt sind, wird es ihnen nicht schwerfallen, derartige Konsultationsbeiträge automatisch in die Konsultationsprozesse auf europäischer Ebene aufzunehmen.

 

3. Alternativszenario für Netzminimierung entwickeln und politische Stellschrauben identifizieren

 

Problem: Der Szenariorahmen geht in der Tradition aller vorhergehenden Szenariorahmen davon aus, dass der gegenwärtige energiepolitische Rahmen weitgehend erhalten bleibt. Dass das unwahrscheinlich ist, haben die immer wiederkehrenden Veränderungen und Nachmodellierungen der Netzentwicklungspläne gemäß veränderter Gesetze gezeigt. Es ist daher nicht plausibel - und mit Gedanken an das Minimierungsgebot sogar methodisch fragwürdig -, mögliche politische Stellschrauben nicht viel mehr in Betracht zu ziehen.

Der Szenariorahmen soll daher, anders als bislang praktiziert, sich mit der gezielten Vermeidung von Netzausbau befassen. Ziel muss sein, der Öffentlichkeit und auch politischen Entscheidungsträgern darzustellen, welche Auswirkungen, Chancen und Risiken eine Netzminimierung mit sich brächte und wie diese zu bewerkstelligen wäre.

Die dafür festzulegenden Kriterien und Zielvorstellungen sollen in einem öffentlichen Dialog durch die Bundesnetzagentur gemeinsam mit den engagiertesten Kritikern des Netzausbaus sowie den einschlägigen Stakeholdern erarbeitet werden.

 

Vorschlag: Sensitivitäten weiterentwickeln und anhand eines Referenzszenarios für Netzminimierung diskutieren

Der Begriff „Sensitivitäten“ wird bei der bisherigen Szenarienerörterung erheblich zu eng gefasst, da sich die Annahmen hauptsächlich auf nach heutigen Maßstäben marktwirtschaftlich profitable und nur im gegenwärtigen Kontext als wahrscheinlich abzusehende Stellschrauben beschränken. Daher gab es bereits vielfach Hinweise, dass ein Netzvermeidungsszenario entwickelt werden soll, das den Begriff der Sensitivitäten in ein politisches Experimentierfeld zur größtmöglichen Netzvermeidung überführt. Entsprechende Stellschrauben sollen in  gezielten Dialogveranstaltungen öffentlich erarbeitet werden. Beispiele:

a) Marktreglementierung

Durch Regionalisierung der Erzeuger-Verbraucher-Beziehungen können Lastflüsse regionalisiert werden. Dies hätte somit Auswirkungen auf den Netzbedarf. Konkret ist hier zu betrachten, welche Auswirkungen auf zukünftige Lastflüsse die Wälzung der durch Stromhandel entstehenden Kosten auf die jeweiligen Verursacher (Verbraucher, Kraftwerksbetreiber) hätte (Nodal Pricing).

b) Räumliche Abschalthierarchie der konventionellen Kraftwerke

Kohlekraftwerke in Küstennähe können Strom billiger produzieren als Kohlekraftwerke weiter südlich, da für diese höheren Transportkosten der Brennstoffe entstehen. Durch den freien Handel mit Strom innerhalb Deutschlands, dessen Mehrkosten nicht bei den Händlern, sondern wie oben aufgeführt bei den Verbrauchern abgewälzt werden, ist es für Großverbraucher von Strom rentabel, Strom bei Großkraftwerken in Küstennähe einzukaufen. Bei der Abwicklung des fossilen Kraftwerkspark werden nach Marktlogik zuerst die unwirtschaftlichsten vom Netz gehen. Nach gegenwärtigen Rahmenbedingungen ist ein Kohlekraftwerk umso unrentabler, je weiter es im Süden steht. Die unterschiedliche Lastenverteilung innerhalb Deutschlands wird durch den freien Handel in Zukunft also verschärft werden und erfordert überdimensionierten Netzausbau. Dabei müssen in den Marktpreis (für den Vergleich der Abschalthierarchie) auch die Kosten des Stromtransports Berücksichtigt werden.

c) Umrüstung auf bedarfsgerechte Biomassestromerzeugung

Ohne den Anteil der Biomasse an der Stromerzeugung zu erhöhen, kann sie zu Spitzenlastzeiten erheblich mehr zur Systemstabilisierung beitragen. Dafür müssten vermehrt Erzeugungsanlagen für Biomassestrom errichtet werden, die zusammen mit derselben Strommenge wie heute mit begrenzten Volllaststunden gezielt im Bereich der Dunkelflaute eingesetzt werden. Sinnvoll erscheint eine entsprechende Betrachtung mit der Begrenzung der Vollaststunden auf 1.000 pro Jahr in einem Referenzszenario. Als Zwischenspeicher sollte das Erdgasnetz betrachtet werden, in das je nach Bedarf Gas ein- und ausgespeist werden kann.

d) Technologiefortschritt

Die Fortentwicklung von Umrichter-, Gleichrichter-, Transport-, Gleichstrom-, KWK-, und weiteren Technologien sollte als Potential entsprechend einer Wahrscheinlichkeitsabschätzung Eingang in ein Referenzszenario finden. Durch die neuen Techniken ist eine direkte Vernetzung der unteren Spannungsebenen möglich. Ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage zwischen den Regelzonen kann dadurch ohne die Nutzung der höheren Netzebenen erfolgen. Dies reduziert notwendigen Übertragungsnetzausbau (Studie „Dezentralität und zellulare Optimierung – Auswirkungen auf den Netzausbaubedarf“, Prognos; 7. Oktober 2016)

e) gezielte Regionalisierung des Ausbaus Erneuerbarer Energien

Durch eine zweckmäßige Allokation des Ausbaus der Erneuerbaren Energien kann durch  Ausbau von Windkraft im Süden und Photovoltaik im Norden ein Beitrag zur Systemsicherheit erbracht werden. Auch wenn dann durch die geringere Wertschöpfung der Energieformen an den ungünstigeren Standorten Mehrkosten entstehen, bietet das wichtige Vorteile: Das Stromsystem wird auf regionaler Ebene stabilisiert und die Akzeptanz für erneuerbare Energieanlagen kann erhöht werden, nicht zuletzt deshalb, weil in einigen Regionen Nord- und Ostdeutschlands die Anzahl der Windkraftanlagen an exponierten Standorten aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger bereits eine kritische Grenze erreicht hat.

 

Mit der Veröffentlichung dieser Stellungnahme bin ich einverstanden.

Ralph Lenkert, MdB