Netzentwicklungsplan Strom 2035 (2021)
1. Entwurf
Konsultation
Vorbemerkung
Der Netzentwicklungsplan weist keine methodischen Verbesserungen auf, der die Zweifel aus bisherigen Entwürfen oder Genehmigungen ausräumt. Das liegt vor allem an den nahezu unveränderten gesetzlichen Rahmen, auf deren Grundlage dieser Netzentwicklungsplan entsteht und andererseits an mangelnder Perspektive, den Netzentwicklungsplan als politische Empfehlungsplattform zu etablieren und zu nutzen.
Die wesentlichen Kritikpunkte bleiben erhalten:
- Fehlen einer volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung
- Europäischer Rahmen dominiert Resultate des Netzentwicklungsplans (irreführende Begründung für die Gleichstromtrassen)
- Investitionsvolumen führt zu massiven Mehrbelastungen für private Haushalte
- Fehlende Alternativenprüfung (Trennung der Preiszone, Beteiligung der Stromhändler an den Netzkosten)
- Verfehlen der Pariser Klimaziele durch unzureichende Aussicht nach 2040 (vollständige Dekarbonisierung bis 2050)
- Systemsicherheit des abgebildeten Stromsystems zweifelhaft (unzureichende Aussicht auf Langzeitspeicheroptionen für Dunkelflaute und anderweitige Versorgungsengpässe)
- Fehlende Transparenz (Nachvollziehbarkeit der Berechnungen für Öffentlichkeit und Politik)
- Netzentwicklungsplan wird weiterhin nicht als politischer Inputgeber verstanden
Gleichwohl möchte ich feststellen, dass die Erläuterungen im NEP durch die Netzbetreiber an einigen Punkten konkreter wurden, was ich als begrüßenswert hervorheben möchte.
Den Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) bleibt auch weiterhin sehr wenig Gestaltungsspielraum, da das Energiewirtschaftsgesetz eine optionale Systemplanung nicht vorsieht. Das führt dazu, dass der Netzentwicklungsplan seit Jahren, dominiert von der europäischen Netzplanung und dem 3.EU-Binnenmarktpaket, immer wieder zu denselben Ergebnissen führt (führen muss). Dass dabei von Netzentwicklungsplan zu Netzentwicklungsplan immer größere Investitionsplanungen anfallen, scheint niemanden zu kümmern oder zu beunruhigen.
Es ist schade, dass die Netzbetreiber die Gelegenheit nicht wahrnehmen, im Rahmen der Netzentwicklungspläne (Begleitdokumente) Abschätzungen zu alternativen Marktrahmen vorzunehmen. Die Kenntnis darüber, inwieweit sich die Notwendigkeit des Netzausbaus bei einer veränderten Kostenwälzung (Beteiligung der Stromhändler an den Kosten der Netze) verändern würde, wäre wesentlich für politische Entscheidungsträger. Gleichwohl haben die Netzbetreiber keine rechtliche Notwendigkeit, solche Abschätzungen vorzunehmen. Das zuständige Wirtschaftsministerium oder die Bundesnetzagentur scheinen sich mit diesen Fragen ebenfalls nicht befassen zu wollen.
Kosten laufen aus dem Ruder
Mit einem Investitionsvolumen von 100 Milliarden Euro werden die Netzentgelte bei der gegenwärtigen Kostenwälzung für private Haushalte um bis zu 4 Cent pro Kilowattstunde steigen. Das war die Aussicht des Netzentwicklungsplans 2019-2035.
NEP 2019-2030- 1. Entwurf Szenario B 2035 - 85 Mrd. €
NEP 2019-2030 - 2.Entwurf Szenario B 2035 - 95 Mrd. €
NEP 2021-2035 - 1.Entwurf Szenario B 2035 - 105,5 Mrd. €
(jeweils inkl. Anbindung offshore).
Bis 2040 werden weitere 20 Mrd. € für die Anbindung von Offshore-Erzeugung vermutet. Erfahrungen mit großen Infrastrukturmaßnahmen zeigen außerdem, dass erste Kostenabschätzungen häufig zu niedrig angesetzt waren. Inwieweit die geplanten Netzinvestitionen also noch steigen, bleibt unbekannt.
Forderung: Darstellung der auf Grundlage der im NEP angegebenen Investitionsvolumina zu erwartenden Auswirkungen auf Strompreise / Netzentgelte
Volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung
Dem Netzentwicklungsplan liegt keine volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung zu Grunde. Diese wird lediglich gemäß europäischer Netzentwicklungsplanung für Interkonnektoren vorgenommen, nicht jedoch für das daraus resultierende Gesamtsystem (inklusive Umweltfolgekosten und Mehrbelastungen für private Haushalte und Wirtschaft). Demzufolge ist es unmöglich, volkswirtschaftlich günstigere Alternativen zu entwickeln und Optionenvergleiche durchzuführen. Die Netzplanung ist damit statisch vom 3. EU-Binnenmarktpaket dominiert und gegebenenfalls mit erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden (bzw. notwendigen Ersatz- und Parallelinvestitionen in der Zukunft) verbunden.
Forderung: volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung und Alternativenabwägung
Abbildung des Auslands / Stromtransit / Europäischer Rahmen
Wenn gemäß Energiebinnenmarktpaket der EU (EC 714/2009) 70% der Leitungskapazitäten dem Stromhandel zur Verfügung gestellt werden müssen, stellt sich unmittelbar die Frage, inwieweit die immensen Kosten des Netzausbaus einen Reboundeffekt zu dem proklamierten „Zugang zu möglichst kostengünstiger Energie für alle Verbraucher“ durch den innereuropäischen Stromhandel darstellen. Bei angenommen 100 Milliarden Euro angesetztem Gesamtinvestitionsvolumen für den Netzausbau bis 2035 ist davon auszugehen, dass bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wälzung der Netzkosten private Haushalte unverhältnismäßig mehrbelastet werden und mit einer Erhöhung der Netzentgelte von bis zu 4 Cent/kWh zu rechnen haben (Abschreibung, Betriebskosten, Wartung Eigenkapitalrendite, Netzverluste). Da eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Netzausbaus unter dem Regime des EU-Binnenmarktpakets niemals durchgeführt wurde (lediglich Interkonnektoren, nicht jedoch die erforderlichen Durchleitungskapazitäten und Auswirkungen auf das Gesamtsystem inklusive Umweltfolgekosten werden für volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtungen auf Seiten der TYNDP in Betracht gezogen) ist völlig unklar, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen der anvisierte Netzausbau insgesamt hat.
Frühere Versionen der Netzentwicklungspläne veröffentlichten den Spitzenwert der Transitlast für eine Stunde des Jahres. Diese Angabe fehlt inzwischen im Netzentwicklungsplan. Dabei ist dies, vielleicht mehr noch als die Spitzenkappung der erneuerbaren Stromeinspeisung, ein Ansatzpunkt, Netzausbau zu vermeiden. Die prognostizierte Strommenge der Transitströme von 67 TWh für das gesamte Jahr 2035 impliziert, dass allein diese Strommenge 7,65 GW Leitungskapazität notwendig macht, würde man diese Strommenge in einem Jahr gleichmäßig transportieren. Da der Stromtransit jedoch nicht permanent gleichmäßig erfolgt, sondern vielmehr starken Schwankungen unterliegt, liegt die erforderliche Transitkapazität sehr viel höher.
Daher stellt sich auch die Begründung für die Gleichstromtrassen (nunmehr als Startnetz definiert) irreführend dar: diese Leitungen sind Ergebnis der europäischen Marktsimulation. Sie werden aber mit dem Transport von EE-Strom innerhalb des deutschen Netzes hauptsächlich begründet. Ihr Nutzen für europäischen Stromhandel und Engpassabbau der innerdeutschen Stromerzeugung und -nachfrage sollte jeweils gesondert dargestellt werden.
Forderung:
- Veröffentlichung auch der aus dem Lastmodell hervorgehenden Spitzenlast durch Stromtransite
- gesonderte Darstellung der für die marktgetriebenen nötigen Leitungskapazitäten ab den zu den jeweiligen Interkonnektoren zuordenbaren Netzknotenpunkten in einer eigenen Karte
- Abschätzung der Kapazitätsanforderungen bei Beschränkung der für internationalen Handel zur Verfügung zu stellenden Kapazitäten auf 50% und 30%, dabei Abschätzung der Stromkostenentwicklung in Deutschland und Auswirkungen auf notwendigen Kraftwerkspark
- Versuch einer volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung der durch das EU-Binnenmarktpaket geforderten Handelskapazitäten
Systemsicherheit: Extremfallbetrachtung
Aus der Marktsimulation des benachbarten Auslandes geht hervor, dass 2035 und 2040 ein nicht unerheblicher Teil der im europäischen Markt zur Verfügung stehenden Leistung aus französischen Atomkraftwerken stammen wird. Es ist davon auszugehen, dass diese Leistung Teil der deutschen Handelsbilanz sein wird. Die Erfahrungen (Winter 2016/17, Februar 2018, Januar 2021) zeigen, dass Strom aus Atomkraft unter Extremwetterbedingungen Dürre und Hitze (Flüsse zu warm oder zu wenig Wasser) und Kälte (Flüsse zugefroren) nicht zur Verfügung steht und durch Kapazitäten aus anderen Ländern, insbesondere durch Strom aus Deutschland und Polen ersetzt werden musste. Die Stabilität des französischen Netzgebietes ist laut NEP jedoch offensichtlich unabdingbar für die Stabilität des gesamten europäischen Netzgebietes, zunehmend mit dem Ausbau von Interkonnektorenkapazitäten. Die Marktsimulation sollte daher solche Extrema abbilden und prüfen, inwieweit unter Extremwetterbedingungen und bei Ausfall von Teilen des französischen Kraftwerksparks (wie im Januar 2021) während Dunkelflautezeiten die Stabilität des Europäischen Verbundsystems darstellbar ist.
Systemsicherheit: 2012 als Referenzjahr nimmt Dunkelflaute nicht in den Blick
Ermittlung der regionalen Verteilung, der Einspeisezeitreihen und der Spitzenkappung erneuerbarer Energien: Die Bedarfsermittlung geht davon aus, dass man anhand eines einzelnen Jahres repräsentativ die Einspeisekurven der erneuerbaren Energien darstellen könnte. Dabei wird sogar hervorgehoben, das Jahr 2012 eigne sich deshalb sehr gut, weil es einen im Jahresvergleich durchschnittlichen Windertrag lieferte. Dieser Ansatz ist komplett verkehrt. Um die für den Netzausbau relevanten Eckdaten der Einspeisekurven erneuerbarer Energien zu erhalten, muss man sich die Jahre wählen, die ungewöhnliche Witterungsbedingungen beinhalten und das System kritisch belasten würden.
Da der kritischere Zustand offensichtlich eine längere Unterdeckung der Erzeugungsleistung relativ zum Durchschnitt ist, muss explizit ein Jahr mit sehr geringer Windleistung, ein Jahr mit sehr geringer Strahlungsleistung, und ein Jahr, in dem gleichzeitig längere Zeit Windarmut in den Wintermonaten („Dunkelflaute“) geherrscht hat, herangezogen werden. Ein statistisch einigermaßen repräsentativer Zeitraum, in denen solche Extrema gesucht werden müssen, beträgt mindestens 30 Jahre. Je nachdem, welche Restunsicherheit man dem System zubilligen will, sollte die Spanne noch vergrößert werden. Wetterdaten, die als Grundlage für solche Abschätzungen geeignet sind, sind aus den klimatologischen Zeitreihen des DWD für die vergangenen mindestens 70 Jahre für jedermann öffentlich zugänglich,
Vorschlag: Einbeziehung von Klimareihen von mindestens 50 Jahren zur Abschätzung der Einspeiseleistungen erneuerbarer Energien in kritischen Jahren
Systemsicherheit: Annahmen zu Erzeugungs- und Speicherkapazitäten gewährleisten Systemsicherheit nicht (Stromverbrauch und Jahreshöchstlast) oder scheitern am Pariser Klimaabkommen
Wie ich bereits zur Konsultation des Szenariorahmens (1. Entwurf) bemängelte, sind die dargestellten Annahmen zu Erzeugungs-, insbesondere aber zu Speicherkapazitäten nicht hinreichend. Obwohl die Annahmen zu Speicherkapazitäten im Szenariorahmen konkretisiert worden sind und das System nunmehr rein rechnerisch und zumindest unter Zuhilfenahme von Stromimporten in Dunkelflautezeiten im Jahr 2040 nicht mehr zum totalen Ausfall führen muss, ist es aber weiterhin offensichtlich auf Kante genäht. Während sich ein Stromimport zur Deckung der Nachfrage für eine Stunde noch darstellen lässt, ist unklar, was passiert, wenn dieser Zustand über mehrere Tage (Wochen) mehrfach am Tag oder gar durchgehend auftritt. Zu berücksichtigen ist hierbei, inwieweit handelbare (Überschuss-)Stromerzeugung im Ausland dann noch zur Verfügung steht.
Eine Schlüsselrolle zur Lastdeckung spielen im NEP-Entwurf die 42 GW installierter Stromerzeugung aus Gas, die jedoch bereits im Durchschnitt mit 40 Prozent erneuerbarer Energie betrieben werden müssen. Völlig unklar ist, wie diese die Stromerzeugung absichern sollen, wenn etliche neue Gaskraftwerke ohne Kondensationsbetrieb gebaut werden, so dass diese ohne gesicherten Wärmeabsatz nicht zur Stromerzeugung zur Verfügung stehen. Ich rege an, dass die KWK zukünftig mit erneuerbaren Rohstoffen (Wasserstoff, Biogas, biogene Feststoffe) betrieben wird und technisch so gestaltet wird, dass die KWK-Anlagen im Bedarfsfall (Strommangel) auch im reinen Stromerzeugungsbetrieb genutzt werden könnten. Dies erspart einerseits Netzausbau, außerdem Stromimporte und zusätzliche Reservekapazitäten.
Anders als im Kapitel 4.2.2., in dem gesagt wird, dass für eine belastbare Bewertung des Niveaus der Versorgungssicherheit in den Szenarien weitere Analysen außerhalb des NEP notwendig wären, ist es meine Auffassung, dass der NEP genau dies selbst leisten muss. Da die mit dem Bundesbedarfsplangesetz formulierten Vorhaben auf Grundlage der Netzentwicklungspläne Gesetzesrang bekommen und unmittelbare Auswirkungen auf das zukünftige Strom- und Kostensystem haben, muss der NEP diese Fragen selbst beantworten.
Forderung: Die Systemsicherheit des Stromsystems im Maßstab des europäischen Verbundnetzes muss für jedes Szenario nachgewiesen werden, wobei Annahmen zu einer mehrwöchigen Dunkelflaute über Zentraleuropa gemacht werden müssen, während aufgrund derselben Wettersituation gleichzeitig größere Kapazitäten konventioneller Leistung (bspw. Atomkraft in Frankreich) nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind.
Zieljahr 2050 in den Blick nehmen – Klimaziele 2050 gewährleisten
Aus den oben aufgeführten Gründen scheitert der hier angesetzte Szenariorahmen weiterhin an den angenommenen Speicherkapazitäten oder aber am Pariser Klimaabkommen. Das macht deutlich, dass der Bottom-Up-Ansatz der Umstellung des Stromsystems nicht zielführend sein kann.
Vorschlag: Es muss zunächst ein Zielszenario 2050 formuliert werden und anschließend vernünftige Zwischenziele festgelegt werden. Für dieses Szenario wäre dann die Netzplanung auszurichten.
Transparenz herstellen
Vorschlag: Die verwendeten Eingangsdaten, Lastflussparameter, Netztopographie und die verwendete Software für Dritte unabhängige Stellen zur Verfügung stellen
Fazit:
Der seit Jahren praktizierte Prozess der Netzplanung in dieser Form ist eine sich selbsterfüllende Prophezeiung unter dem Regime des europäischen Strombinnenmarktes und dem zugehörigen EU-Binnenmarktpaket. Ob dieser Prozess volkswirtschaftlich sinnvoll ist, ist angesichts des bevorstehenden Flächenverbrauchs durch neue Stromtrassen und angesichts der anstehenden Investitionskosten zu bezweifeln. Dass dabei die Vision auf ein vollkommen dekarbonisiertes Energiesystem ab 2050 fehlt, ist unerträglich. Es lässt vermuten, dass der Netzentwicklungsplan in Zukunft durch erhebliche Zusatzinvestitionen in Großspeicher und Saisonspeicher und deren Anbindung ergänzt werden muss, die, wenn sie heute bereits berücksichtigt würden, wahrscheinlich zu völlig anderen Ergebnissen der Planung führen würden. Die derzeitige Kostenwälzung der Netzentgelte wird mittelfristig zu sozialen Verwerfungen führen und deshalb reformiert werden müssen. Dass hierbei entscheidende Effekte auf die Netzplanung entstehen können, ist erwartbar, spätestens, wenn marktregulatorisch die Verursacher des ausufernden Stromhandels an den Kosten beteiligt werden. Derartiges nicht in Erwägung zu ziehen, ist fahrlässig.
Ralph Lenkert
Mitglied des Deutschen Bundestags
Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur
Berlin, Februar 2021