Netzentwicklungsplan Strom 2035
Version 2021

2. Entwurf

Konsultation

 

Vorbemerkung

Die Konsultation des Szenariorahmens und des 1. Entwurfs des NEP Strom 2035 (2021) bei den Netzbetreibern brachte keine Klärung eines dem Szenario B (2040) immanenten Problems: es ist im Falle einer länger anhaltenden Dunkelflaute nicht systemsicher. Der Netzentwicklungsplan weist eine Unterdeckung der Spitzenlast auf, die durch „Handel“ gefüllt werden soll. Der 2. Entwurf des NEP stellt die Notwendigkeit dieses „Handels“ zur Deckung der Höchstlast (B 2040) mit 31,3 GW im Extremfall dar. Dieser Wert entspricht beinahe 75 Prozent der gesamten (seit Abschaffung der NTC-Methodik im NEP 2019 letztmalig nachvollziehbaren) Handelsaustauschkapazität der Interkonnektoren nach Deutschland, wie sie im NEP 2017 Szenario B 2035 angegeben wurde. Mit anderen Worten: Man geht davon aus, dass drei Viertel der Handelskapazitäten nach Deutschland gleichzeitig genutzt werden (können), um in Deutschland die Spitzenlast zu decken. Um die Systemsicherheit des europäischen Verbundnetzes sicherzustellen, ist es also notwendig, dass das benachbarte europäische Ausland auch in der Lage ist, dieses Lastdefizit in Deutschland zu decken.

Sehr kritisch wird dies während länger anhaltender Dunkelflauten, die ja vorrangig in Zeiten auftreten, in denen auch die Stromnachfrage besonders hoch ist (Winter). Dem Netzentwicklungsplan fehlt jegliche Betrachtung dieses Problems. Ob bei überregionalen witterungsbedingten Extremlagen das Deutschland umgebende Ausland in der Lage ist, nicht nur seine eigene Lastnachfrage zu decken, sondern die des deutschen Verbundnetzes zusätzlich, ist fraglich und bedarf einer gesonderten Analyse.

Nicht nur die Spitzenlast, auch eine über mehrere Tage, möglicherweise Wochen zusätzlich benötigte Strommenge soll durch Importe bereitgestellt werden. Der Netzentwicklungsplan übersieht dabei, dass das benachbarte europäische Ausland im Falle einer Dunkelflaute selbst an Kapazitätsgrenzen stoßen wird, wenn innerhalb der EU unter dem gegenwärtigen Strommarktregime die Pariser Klimaziele eingehalten werden sollen. Das ist nicht als ein Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Pariser Klimaziele aufzufassen, sondern als Zweifel an der Eignung dieses Netzentwicklungsplans und den ihm zugrunde liegenden Annahmen, eine systemsichere, klimaneutrale und preiswerte Zukunft abzubilden.

Während einer Dunkelflaute steht permanent keine Leistung zur Verfügung, mit der Speicher ausreichend „gefüllt“ werden können, um über mehrere Stunden zur Lastabdeckung jenseits von 80 GW gesicherter Leistung beizutragen. Wenn während eines kalten Winters über zwei Wochen in Mitteleuropa nahezu kein Wind weht und keine Sonne scheint, während französische Atomkraftwerke wie in der Vergangenheit abgeschaltet werden müssen, ist fraglich, woher die nötige Leistung und Strommenge dann noch kommen soll.

Die Bundesnetzagentur wurde durch Konsultation des Szenariorahmens auf dieses Problem hingewiesen. Eine Erläuterung, Antwort oder ähnliches ist der Genehmigung des Szenariorahmens durch die BNetzA nicht zu entnehmen. Lediglich die Netzbetreiber argumentieren nun, dass die Betrachtung der Systemsicherheit des europäischen Verbundnetzes für die Dimensionierung des deutschen Übertragungsnetzes nicht relevant sei (vgl. S 101 – 2. Entwurf NEP). Diese Aussage erscheint widersinnig, da die Dimensionierung von Speichern und weiteren zusätzlichen Flexibilitätsmaßnahmen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit selbstverständlich Einfluss auf die Netzdimensionierung haben müssen.

Es stellt sich so dar, dass entweder der von der BNetzA genehmigte Szenariorahmen nicht konsistent ist, oder, da er ja eng an den gegenwärtigen energiepolitischen Vorgaben angelegt ist, der Netzentwicklungsplan nun aufzeigt, dass die gegenwärtigen energiepolitischen Vorgaben nicht geeignet sind, ein versorgungssicheres Stromsystem nach 2035 zu gewährleisten.

Als Genehmigungs- und Regulierungsbehörde liegt es in der Verantwortung der BNetzA, das zuständige Wirtschaftsministerium oder den Gesetzgeber darauf aufmerksam zu machen, falls gegenwärtige politische Rahmenbedingungen in Zukunft problematisch werden können.

Wenn eine Infrastrukturplanung aber unter solchen Prämissen wie diejenigen dieses Netzentwicklungsplans durch den Gesetzgeber erfolgen soll, fehlen wesentliche Informationen. Eine verantwortungsvolle Gesetzgebung ist mit dem vorliegenden Netzentwicklungsplan meiner Auffassung nach nicht möglich.

 

Speichermanagement

Dem Netzentwicklungsplan fehlen wesentliche Angaben zum geplanten Speichermanagement. Für eine Strominfrastruktur, die vermehrt auf Flexibilität angewiesen ist, sind Aussagen zur Speichernutzung essentiell.

Forderung:

In zukünftigen Netzentwicklungsplänen und deren Szenariorahmen muss ein eigenes ausführliches Kapitel eingeführt werden, das der Öffentlichkeit darstellt, wie und wann der Speicherpark und weitere Flexibilitätsoptionen eingesetzt werden sollen und wie die Genehmigungsbehörde Deutschlands und die der benachbarten  EU-Staaten und der Schweiz, sowie Norwegens sicherstellen wollen, dass während extremer Witterungsereignisse die Systemstabilität gewährleistet ist.

Als Abgeordneter des Bundestages behalte ich mir vor, diesen Aspekt während der kommenden Beratung des Bundesbedarfsplangesetzes im Bundestag zur Sprache zu bringen und darüber hinaus insbesondere die Rolle der Bundesnetzagentur öffentlich zu hinterfragen.

 

Analyse Systemsicherheit im EU-Verbundnetz (im Sinne eines n-1-Kriteriums)

Was passiert, wenn in einem benachbarten Land des EU-Verbundnetzes wesentliche Kraftwerkskapazitäten witterungsbedingt ausfallen? Obwohl diese Frage eigentlich durch den TYNDP beantwortet werden sollte (was dieser nicht tut), ist diese Betrachtung für die Planung des inländischen Stromnetzes relevant. Der Netzentwicklungsplan geht davon aus, dass Leistungs- und Arbeitsdefizite im deutschen Stromnetz durch Importe abgedeckt werden. Falls in Frankreich durch zu große Hitze im Sommer oder durch gefrierende Flüsse im Winter erhebliche Abweichungen in der Stromerzeugung bzw. im Stromverbrauch auftreten, muss die Systemsicherheit des restlichen Verbundnetzes gewährleistet bleiben. Inwiefern dies das deutsche Übertragungsnetz betreffen würde und welche Ersatzoptionen für Stromimporte zur Verfügung stehen würden, geht aus dem TYNDP nicht hervor.

Forderung:

Überprüfung der Systemsicherheit des europäischen Verbundnetzes bzw. des inländischen Übertragungsnetzes. Stellt sich heraus, dass während einer mehrtägigen Dunkelflaute in Mitteleuropa eine Unterdeckung der angeforderten Leistung und Arbeit im deutschen Stromnetz unvermeidlich ist, muss der Netzentwicklungsplan auf diesen Aspekt hin neu berechnet werden.

 

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

Die CBA (Cost-Benefit-Analysis) der Netzentwicklungsplanung beschränkt sich nach wie vor auf die Einzelbetrachtung von Interkonnektoren, nicht jedoch, welche Kosten durch den zusätzlichen Leitungsbau für diese Interkonnektoren selbst ausgelöst werden, und das nur, um Handelsschranken für Strom abzubauen, ohne die Systemsicherheit (siehe vorheriger Absatz) zu erhöhen. Diese Kritik wurde bereits vor Jahren im gemeinsamen Abschlussbericht von Consentec GmbH, RWTH Aachen, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) und Forschungsgemeinschaft für elektrische Anlagen und Stromwirtschaft (FGH) an das BMWi (Abschlussbericht AP2 für das BMWi, 15.02.2018 CONSENTEC / IAEW / ISI / FGH) übermittelt. Diese Kritik am CBA-Prozess für grenzüberschreitende Stromleitungen ist nach wie vor nicht berücksichtigt oder widerlegt. Das Konsortium weist darauf hin, dass der CBA-Methodik Transparenz über länderspezifische Auswirkungen und die Ermittlung von Verteilungseffekten fehlen.

Konsultiert man die Netzbetreiber mit dem Argument der fehlenden volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wird man auf das NOVA-Prinzip verwiesen. Das NOVA-Prinzip hat mit einer EU-rechtlich motivierten und auf die Interessen der Stromwirtschaft ausgerichteten Wirtschaftspolitik im grenzüberschreitenden Stromhandel jedoch inhaltlich nichts zu tun. Die Bundesnetzagentur wurde auf die fehlende Abschätzung der volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz des Netzausbaus ebenfalls mehrfach hingewiesen unter anderem von mir (Stellungnahme zum Szenariorahmen des NEP 2021-2035, Stellungnahme zum 2. Entwurf des NEP Strom 2019-2030, Stellungnahme zum 2. Entwurf des NEP Strom 2017-2030). Es ist die Kernkompetenz der BNetzA als Behörde des Bundes, auch ihre Pflicht, die Stromverbraucherinnen und Stromverbraucher vor unnötigen Mehrkosten zu schützen. Das ist aber nur möglich, wenn man eine Kosten-Nutzen-Analyse der gesamten Infrastrukturplanung aufstellt. Dazu gehören auch Betrachtungen anderer Formen energiewirtschaftlicher Regulierung, beispielsweise durch die Einführung eines Nodal-Pricing-Modells im Strommarkt und auch eine Überprüfung der Option „Preiszonentrennung“. Obwohl der Gesetzgeber diese Option (auf Empfehlung des Bundeswirtschaftsministeriums) zu Beginn der 19. Legislaturperiode mit großer Eile ausgeschlossen hat, besteht für die BNetzA die Pflicht, den Gesetzgeber wertungsfrei über diese Möglichkeit umfassend zu informieren. Für den Gesetzgeber besteht jederzeit die Möglichkeit, dieses Gesetz abzuändern.

Forderung:

Die Bundesnetzagentur muss die angewendeten CBA-Kriterien transparent überprüfen. Sie muss darüber hinaus transparent darstellen, wie sie zur Genehmigung des NEP die Kriterien überprüft, welche Kriterien sie prüft, welche Kriterien unzureichend sind. Die CBA-Methodik muss darüber hinaus nicht nur auf einzelne Projekte angewendet werden, sondern auch auf die Gesamtheit aller geplanten Projekte, um positive Überlagerungseffekte auszuschließen.

 

Wiedereinführung der NTC-basierten Darstellung der zukünftigen Handelskapazitäten innerhalb des europäischen Verbundnetzes

Die Abkehr der NTC-basierten Aufschlüsselung der Handelskapazitäten über Interkonnektoren zwischen Marktgebieten führte unmittelbar dazu, dass der Netzentwicklungsplan für die Öffentlichkeit weniger verständlich wurde. Da der NTC-Ansatz zur Ermittlung des RAM (Remaining Available Margin) ohnehin in einer initialen Marktsimulation durchgeführt werden muss, wäre es wünschenswert, wenn die BNetzA die ÜNB veranlasst, diese Angaben dem NEP wieder hinzuzufügen. Die bloße Darstellung der Strommengen im europäischen Handel ohne jeglichen zeitlichen Kontext ist nahezu nutzlos zur Einschätzung der Dimensionierung des Stromnetzes.

 

Plausibilität des Netzentwicklungsplans mit DENA-Leitstudie abgleichen

Mit der neuerlichen Veröffentlichung der DENA-Leitstudie wurde endlich eine Perspektive einer klimaneutralen Zukunft gemacht, die nicht nur das Stromsystem, sondern das gesamte Energiesystem im Blick hat. Die Bundesnetzagentur sollte eine Überprüfung des Netzentwicklungsplans anhand der Vorschläge der DENA-Leitstudie Klimaneutralität vornehmen und  öffentlich deutlich machen, wie der Netzentwicklungsplan die Zukunftsfragen beantwortet. Es wäre nicht zu vermitteln, wenn der Gesetzgeber einen energiepolitischen Pfad zu 100 Prozent erneuerbarer Energie einschlagen will, während die Netzentwicklungsplanung trotz sehr hoher Kosten dieses Ziel nicht verfolgt.

 

Öffentlichkeitsbeteiligung und Konsultation

Weder ÜNB noch Bundesnetzagentur sind verpflichtet, aus dem Pool der eingegangenen Stellungnahmen zu den Konsultationsprozessen bestimmte Hinweise aufzugreifen oder nicht. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist zwar obligatorisch, jedoch nicht bindend. Da zu bestimmten Themen verschiedener Kreise von Konsultationsteilnehmenden immer wieder keine Reaktion in Form von Erklärung, Erläuterung oder Berücksichtigung erfolgt, bleibt es den Teilnehmenden nicht erspart, bestimmte Aspekte repetitiv immer wieder vorzubringen, während Mitarbeiter bei ÜNB und BNetzA diese gleichermaßen repetitiv immer wieder zur Kenntnis nehmen müssen.

 

Ralph Lenkert

Mitglied des Deutschen Bundestags
Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur
Berlin, Oktober 2021