Ein Tag in der Seniorenbetreuung, Erfahrungen und Erlebnisse

Ralph Lenkert

Es ist 8 Uhr und ich bin zur Einweisung bei der Leiterin der Einrichtung zur Tagespflege für Seniorinnen und Senioren. Nach einem kurzen Rundgang werde ich einer Tagespflegestation zugeteilt. Gerade wird gefrühstückt und meine erste Aufgabe lautet:  Zerkleinere das Essen. Dann lerne ich ständig zu fragen „Haben Sie schon getrunken?“ und fülle Wasser in die Becher nach. Ansonsten herrscht außer den Essgeräuschen Stille. Beim Essen spricht man nicht, so war dies früher und bekannte Regeln helfen beim Training des Gedächtnisses - einige der Gäste leiden neben körperlichen Problemen an Demenz in verschiedenen Stadien. Nach dem Frühstück stellen wir uns vor und es gibt Rosen zum Frauentag – wie früher.

Nächste Woche wird Marie 100 Jahre alt, ein Lächeln huscht über das faltige Gesicht.  Elfriede ist halbseitig gelähmt, manchmal braucht Sie Hilfe – und sie hat keinen Tischdienst. Heute hat keine Dame Tischdienst - es ist Frauentag und ich übernehme das Abräumen – ausnahmsweise.
Ruth sitzt schon wieder über ihrem Kreuzworträtsel, alles andere blendet sie aus. Fragt die Betreuerin „Hast Du getrunken?“ führt Sie den Wasserbecher mechanisch zu den Lippen, trinkt einen Schluck und weiter wird gerätselt – bis zur Störung.

Wir machen Gymnastik. Alle sitzen im Kreis und dann reichen wir einen Ball herum im Uhrzeigersinn, mit der rechten Hand – nur Elfriede darf die Linke nehmen. Dann erfolgt der Handwechsel und nun wird’s interessant - werfen und fangen. Wer wirft, darf dem Fänger eine Frage stellen. Manchen Damen fällt sowohl fragen als auch antworten schwer. Die Regeln werden geändert, wer den Ball nicht in den Eimer werfen kann, muss eine Frage beantworten. Die Betreuerin stellt den Eimer so, dass jede Dame eine fifty-fifty Chance hat zu treffen – genau achtet die Betreuerin dann darauf, welchen Schwierigkeitsgrad der Fragen sie wählt. Gerda, bei der die Demenz weit fortgeschritten ist, muss einen Namen mit G nennen - „Gerda“ antwortet sie und lächelt stolz und glücklich. Gedächtnistraining, ohne dass es zu häufige Misserfolge gibt, das erfordert viel Wissen und Erfahrung.  Schwer fällt es mir, die passenden Fragen zu stellen, als ich dann als Frager dran bin.

Zum Abschluss der Gymnastikrunde spielen wir Sitzfußball. Ich bin der Springer – ich muss den Ball holen, wenn er wegspringt oder für die Füße unerreichbar liegen bleibt. Wir haben viel Spaß.
Schon ist Mittag, aber nur zwei Damen essen mit am Tisch, die anderen wollen auf ihr Zimmer oder in den großen Speisesaal. Ich helfe Elfriede, schneide die Boulette und sortiere alle Möhren aus dem Mischgemüse, denn die darf Elfriede nicht essen.

Jetzt ist Mittagsruhe von 12 - 14:00 Uhr. Die Betreuerinnen essen selbst und dann füllen sie die Pflegeblätter aus. Zwei Bürgerarbeiterinnen gehen einkaufen, für die eigene kleine Küche (nachmittags gibt es selbstgemachten Toast Hawai) und für die Gäste. Heute brauchen sie die schweren Einkaufstaschen nicht zu tragen, ich bin ja da.

Jetzt habe ich auch Pause. Mit meinem Essen in der Hand will ich mich setzen, aber ich soll zu Paul gehen, er braucht jemand zum Erzählen. Er fängt auch sofort an, als ich mich setze. Er war Fallschirmjäger im 2. Weltkrieg. Stolz erzählt er, wo er alles war – Italien, Afrika, Russland, Normandie und auf Kreta mit Max Schmeling, was er alles erlebte und dann murmelt er leise –  er hatte Glück und ist froh, dass er noch lebt und wünscht sich nie wieder Krieg.

Meine Pause ist vorbei und ich gehe zurück zu meinen Damen. Eine freiwillige Helferin, ALG II-Bezieherin, ist hinzugekommen eigentlich zum Rausgehen, aber es nieselt. Jetzt erzähle ich vom Bundestag und dann diskutieren wir über unsere Meinungen zur OB-Wahl in 5 Wochen bis zum Kaffee trinken mit Toast Hawai. Im Schneiden bin ich schon geübt. Jetzt gibt es individuelle Betreuung. Mich schickt man zu Alma auf Ihr Zimmer, ihr sind die Gespräche in der Gruppe zu einfach, deshalb kam sie heute mal wieder nicht. Sie freut sich riesig und erzählt sofort von Ihrer Vertreibung aus Siebenbürgen und wie sie und ihre Freundin Glück hatten auf der Flucht und wie sie in Thüringen ankam, allein mit zwei kleinen Kindern. Eines Tages kam der Bürgermeister und fragte sie, ob sie nicht zu dem Witwer mit den 3 Kindern ziehen könnte als Hilfe. Sie wurden ein Paar. Später war sie die Bürgermeisterin und kämpfte für ihren Ort. Als jetzt die Ergotherapeutin kam, wollte sie die wegschicken – ich musste versprechen, das Gespräch fortzusetzen – in einer dreiviertel Stunde, weil sie ja so selten ein Gespräch mit einem Bundestagsabgeordneten führen kann und das will sie nicht versäumen.

Bis zur Gesprächsfortsetzung räumte ich noch einen Kühlschrank ein und dann traf sich das feste, das zeitweise eingestellte und das freiwillige Personal zur Tagesauswertung. Meine Meinung wurde gefragt. Fazit: Ich hatte es eigentlich leicht - keine Toilettengänge, keine Hilfe zur Körperpflege und morgen habe ich einen anderen Tagesablauf. Mit welchem Einsatz in der Einrichtung für die Seniorinnen und Senioren gesorgt wird, hat mich beeindruckt. Körperlich war es kein Problem, aber ich befürchte, ich würde diesen Job seelisch nicht durchhalten. Ich bewundere die Frauen, die dort arbeiten  und dass es ohne die Freiwilligen nicht wirklich geht, hat mich traurig und wütend gemacht.

Jetzt weiß ich aus eigener Erfahrung, dass „Frauenjobs“ hart und unterbezahlt sind und die Frauen trotzdem mit Engagement arbeiten, weil - jemand muss doch helfen – und dies wird missbraucht.
Ich dankte für die Möglichkeit, diesen Tag so zu erleben, und für den täglichen Einsatz der Frauen für unsere Seniorinnen und Senioren mit dem Wissen, dass der Dank der Mitbürger meistens zu kurz kommt. Und dann musste ich noch mein Gespräch mit Alma beenden.

Ralph Lenkert
(Namen wegen des Datenschutzes geändert)