Butter statt Kanonen Warum der Krieg in Afghanistan uns alle angeht

Ralph Lenkert

Liebe Leserinnen und Leser,

Deutschland führt Krieg. Seit fast zehn Jahren. Davon merkt man nicht viel. Es gibt keine
ausgebrannten Häuser, keine Leichenberge, keinen Hunger. Gemütlicher war Krieg noch nie.
Obwohl fast 80 % der deutschen Bevölkerung den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan
befürworten, wird der Einsatz wieder und wieder verlängert – von gewählten Volksvertretern.

Und niemand regt sich auf.

Dabei gäbe es, von Menschen- und Völkerrecht einmal abgesehen, ganz praktische Gründe,
diesen Krieg zu beenden. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Ende des letzten
Jahres konnte keine Fortschritte, sondern bestenfalls ein Auf-der-Stelle-Treten feststellen.

Die Konflikte in Afghanistan sind militärisch nicht zu lösen, und doch fällt den Politikern nichts anderes ein, als eine offensichtlich erfolglose Strategie weiterzuführen und noch mehr
Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Wir alle bezahlen dafür.
Diese Bundeswehrsoldaten haben einen Eid darauf geschworen, ihr Vaterland zu verteidigen,
und finden sich stattdessen im tausende Kilometer entfernten Kunduz wieder, wo vorgeblich
unsere Freiheit verteidigt wird. Diese Freiheit ist, wie Bundespräsident Horst Köhler
ausplauderte, ein wirtschaftliches Interesse. Afghanistan, das selbst nicht über Ölvorkommen
verfügt, könnte ein wichtiger Transportweg für Öl aus Mittelasien sein. Dafür sind derzeit fast
3000 deutsche Soldaten dort stationiert. Etwa ein Drittel von ihnen, hat eine psychologische
Studie der Technischen Universität Dresden ergeben, erlebt in ihrem Einsatz, wie Menschen
in unmittelbarer Nähe getötet oder schwer verletzt werden. Viele kommen damit nicht
zurecht; etwa tausend sind seit Kriegsbeginn in psychologischer Behandlung gewesen –
wegen Depressionen, Schlafstörungen oder Posttraumatischer Belastungsstörung, einer
schweren psychischen Erkrankung, die zu Persönlichkeitsveränderungen, Panikattacken und
sozialer Isolation führt. Ob sie sich wieder in ein ziviles Leben einfügen werden, kann
niemand sagen.

Da Wehrpflichtige bisher nicht zu Auslandseinsätzen herangezogen wurden und die
Wehrpflicht inzwischen ganz ausgesetzt wurde, scheinen die Soldaten an ihrer Misere selbst
schuld zu sein. Viele aber werden von Arbeitslosigkeit und fehlenden Lehrstellen in die
Armee gedrängt, die eine solide Ausbildung oder auch ein Studium unter Umgehung strenger
Numerus-clausus-Beschränkungen verspricht. Mehr als die Hälfte der freiwillig länger
dienenden Soldaten – die auch im Ausland eingesetzt werden können – kommen aus den nicht mehr so neuen Bundesländern im Osten des Landes, obwohl da nur ein Fünftel der Bevölkerung lebt, Arbeitslosigkeit und Armut aber noch immer weit über dem Niveau im
Westen liegen. Unter den einfachen Soldaten in Afghanistan sind es sogar 62 %, und
entsprechend hoch ist auch ihr Anteil an den inzwischen 46 Gefallenen. In den Medien
werden sie als Helden geehrt, bilden sie den bedeutungsvollen Hintergrund für die
Selbstdarstellung des jeweiligen Verteidigungsministers.


Ob sie dieses Heldentum wollten, fragt keiner. Keiner fragt nach zerstörten Familien und den
ersten Kriegswaisen nach 60 Jahren Frieden in Deutschland. Auch für viele Soldaten geht es
nicht um Freiheit oder ein demokratisches Afghanistan, von dem ohnehin keiner sagen kann,
wie es aussehen sollte. Es geht um Geld. Der Sold für einen einzigen Tag Kriegseinsatz
beträgt 110 Euro. Während der viermonatigen Einsätze kann man also 13000 Euro verdienen.
Das ist nicht übermäßig viel, denn der durchschnittliche Verdienst in der zivilen Wirtschaft
liegt bei knapp 10000 Euro. Das macht gerade einmal dreitausend extra für einen Job, bei dem Tag für Tag Leben und Gesundheit aufs Spiel gesetzt werden müssen. Für junge Männer, die vielleicht schon während ihrer Kindheit unter Hartz IV-Verhältnissen gelebt haben und keine Arbeit finden, ist die Versuchung trotzdem groß.


Die Bundeswehr, der seit dem Wegfall der Wehrpflicht die Rekruten ausgehen, rührt
außerdem lautstark die Werbetrommel. Sie drängt mit ihren Jugendoffizieren in die Schulen,
taucht mit ihrer Technik auf Volksfesten und Messen auf und bietet strategische
Computerspiele für Jugendliche an, in denen es normal ist, geopolitische Interessen mit
Waffengewalt durchzusetzen. Die wenigsten Schulen verweigern sich diesen Aktionen. Allein
4.8 Millionen Euro kostete zu Anfang dieses Jahres eine Werbekampagne der Bundeswehr
mit Spots bei Kabel 1, Pro 7 und verschiedenen Rundfunksendern sowie Anzeigen in BILD.
Zur Zeit der deutschen Vereinigung war viel die Rede von der Friedensdividende, die nach
dem Ende des Kalten Krieges und des irrsinnigen Wettrüstens uns allen ein besseres Leben
bescheren würde. Das Problem dabei: Mit guten Schulen, einer guten Gesundheitsversorgung oder einer funktionierenden Staatsbahn lässt sich wenig Profit machen. Es sind Aufgaben, die der Staat selbst organisiert und direkt aus den Steuern bezahlt, ohne dass private Unternehmen nennenswert beteiligt sind. Ein Krieg hingegen belebt das Geschäft. In den ersten acht Jahren, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnet, hat der deutsche Krieg in Afghanistan 25 Milliarden Euro verschlungen, mehr als drei Milliarden in jedem Jahr, acht Millionen an jedem einzelnen Tag.

Die enorme Zahl wird greifbarer, wenn man sie mit dem unsozialen Sparpaket der Regierung
vergleicht. Hartz IV-Empfängern wurde das Elterngeld von 300 Euro monatlich gestrichen.
Das spart pro Jahr 400 Millionen. Außerdem wird für sie kein Beitrag mehr an die
Rentenversicherung abgeführt. Das bringt kurzfristig weitere 1.8 Milliarden Euro (und wird
langfristig durch höhere Altersarmut wieder teuerer). Die Erhöhung des Regelsatzes um fünf
Euro, um die so erbittert gestritten wurde, kostete für die 7.5 Millionen Empfänger von
sozialer Mindestsicherung nicht einmal eine halbe Milliarde.
Würde man einen sinnlosen, nicht gewinnbaren Krieg einsparen, könnte man die Kürzungen
im sozialen Bereich rückgängig machen oder Kindergärten bauen, Lehrer einstellen, Schulen
und Krankenhäuser sanieren – alles Dinge, die sich Deutschland angeblich nicht mehr leisten
kann. Man könnte eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben, die jungen Männern eine echte
Perspektive jenseits des Schlachtfeldes bietet. Stattdessen hat die Regierung beschlossen, die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit strukturell um drei Milliarden Euro pro Jahr zu kürzen. Dabei stehen vor allem Maßnahmen zur Arbeitsförderung auf der Streichliste.

Die Heimatfront des Afghanistan-Krieges ist der Sozialabbau. „Kanonen statt Butter“ gilt
auch heute wieder, wenn auch nur für die sozial Schwächsten: alleinerziehende Mütter, ältere Arbeitslose, Rentner, die wegen ihrer früheren Hungerlöhne nicht von ihrer Rente leben können … Noch können junge Männer eine Arbeitsstelle bei der Bundeswehr ablehnen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Wie lange das so bleibt, weiß keiner. Wenn die Freiwilligen ausbleiben, kann es schon bald heißen: Wer arm ist, muss an die Front. Keiner wird sagen, dass damit auch das soziale System entlastet wird. Aber denken wird es der eine oder andere, gerade jetzt, wo überall in Europa arbeitslose junge Leute auf die Straße gehen oder wie in London randalieren.

Auch Thüringen profitiert von Armee und Rüstung. Die Landes-CDU treibt die Sorge um die
Bundeswehrstandorte um. Landes-Generalsekretär Mario Voigt nannte sie „strukturprägend
und wichtige Wirtschaftsfaktoren“, und auch Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht setzt
sich für den Erhalt ein. Die zwölf Standorte umfassen insgesamt 7700 Soldaten und zivile
Angestellte, hinzu kommen diverse Dienstleistungen – bis hin zur Bewachung der Objekte.
Gute Chancen sehen die Politiker etwa für die Objekte in Mühlhausen, wo
Aufklärungsdrohnen für den Afghanistan-Krieg stationiert sind, und Gera. Die dortige Einheit
war schon mehrfach an Kampfeinsätzen beteiligt.

Der Jenoptik-Konzern verkündete vor kurzem stolz, einen Vertrag über vier Millionen Euro
für Komponenten für Eurofighter-Flugzeuge abgeschlossen zu haben. Das Jenaer
Unternehmen ist damit Teil der äußerst erfolgreichen deutschen Rüstungsindustrie, die mit elf Prozent Marktanteil auf dem dritten Rang hinter USA und Russland liegt. Wer in diesem
Zusammenhang eine Reduzierung der militärischen Produktion fordert, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, Arbeitsplätze vernichten zu wollen.

Aber ein Wegfall von Rüstung muss nicht automatisch auch ein Wegfall von Arbeit sein. Das
deutsche Steuergeld kann nur einmal ausgegeben werden. Es ist eine rein politische
Entscheidung, ob man es in Krieg und Vernichtung oder Daseinsvorsorge wie Infrastruktur
und Energieerzeugung investiert. Es geht nicht nur um soziale Einrichtungen wie Schulen
oder Altersheime. Auch für den Hochtechnologiesektor gibt es ausreichend
Herausforderungen. Zu den wichtigsten gehören derzeit Energieeffizienz und
Energiespeicherung, aber auch in der Medizintechnik kann man mit guter Arbeit gutes Geld
verdienen. Eine gezielte Forschungsförderung in diesen Sektoren könnte wirtschaftlichen
Erfolg jenseits der Vernichtungstechnik auch für die kommenden Jahre sichern – wenn das
politisch gewollt wäre.

Es gibt wenige Fälle, in denen man mit gutem Gewissen egoistisch sein kann. Der Krieg in
Afghanistan ist einer davon. Er funktioniert nicht ohne Spardiktat und Sozialkürzungen an der Heimatfront. Wenn das nächste Mal ein Politiker meint, wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt, sollte man ihn nach den Kosten des Krieges fragen. Man sollte ihn fragen, warum wir für das Umbringen afghanischer Kinder mehr Geld haben als für das Bildungspaket für deutsche Hartz IV-Kinder. Und wir sollten Butter fordern statt Kanonen.

Vielen Dank an Heidrun Jänchen für die Unterstützung bei diesem Newsletter!

Ich wünsche Ihnen eine friedliche Woche

Ihr
Ralph Lenkert